Alt-Texte – Gedanken zu einem zuweilen "heißen Eisen".
Auf den wohl meisten Social-Media-Plattformen ist es gewünscht, dass eingefügten Bildern sog. Alt-Texte mitgegeben werden. Wer jetzt nicht weiß, was das eigentlich ist, hier kurz ein Auszug aus Wikipedia:
"Ein Alt-Text (kurz für Alternativtext) ist eine kurze Bildbeschreibung oder eine kurze sprachliche Übersetzung eines visuellen Inhalts im Internet, die blinden Benutzern von Hilfsmitteln wie Screenreadern anstelle des Bildes vorgelesen wird. Alt-Texte sind eine wichtige Bedingung für ein barrierefreies Internet."
Auf Bluesky beispielsweise trifft man hierzu auf zuweilen schon fast militante Ansichten bei manchen Usern. Dabei wollen diese zweifellos Gutes bewirken, vergessen bei den Inklusionsbestrebungen meines Erachtens aber zu schnell das Reflektieren und Differenzieren des wohlgemeinten Tuns.
Da ich hierzu immer mal wieder in Diskussionen gerate und die betreffenden Plattformen nicht den Rahmen für komplexere Ausführungen bieten, nun einfach mal hier an diesem Ort einige Gedanken von mir dazu.
Die Ausgangslage
Es ist eine Frage des Anstandes, Menschen mit einem - wie auch immer gearteten - Handicap eine bestmögliche gesellschaftliche Teilnahme zu ermöglichen. Und auch, weil jeder von uns von jetzt auf gleich ebenfalls in solch eine Lage kommen könnte. Mit diesem Hintergrund sind Alt-Texte eine durch und durch sinnvolle Erfindung für potentiell jeden von uns, denn gerade auf Social-Media-Plattformen werden Unmengen von Informationen über Grafiken transportiert. Seien es Memes, Charts, Fotos von Ereignissen ... u.v.a.m.
Damit Blinde und Sehbehinderte am Informationsfluss teilhaben können, müssen erwähnte Grafiken für Screenreader lesbar werden. Idealerweise werden diese Bildinhalte bereits im eigentlichen Post ausreichend erörtert, oder, was aus Gründen der zumeist limitierten Zeichenanzahl meist angebrachter ist, im bereits erwähnten Alt-Text als Meta-Information zum betreffenden Bild hinterlegt.
Ich selbst gebe mir Mühe, das möglichst gut umzusetzen – und ich möchte auch andere dazu ermutigen, auch wenn es vielleicht mitunter eine Minute Mehraufwand bedeuten mag.
Das Problem
Was manchen hierbei nicht bewusst ist, dass diese Alt-Texte an Grenzen stoßen. Nämlich in dem Moment, wo Bilder rezipiert, also sinnlich erfasst werden müssen. Und ich meine damit ganz konkret: all die Bilder, die in einem künstlerischen Kontext stehen und somit weit mehr als nur eine Sachinformation in sich tragen.
Nun, warum ist das ein Problem?! Um das zu veranschaulichen, zitiere ich nachfolgend einmal den sehr gewissenhaft formulierten Alt-Text eines Bildes, den ein ein von mir außerordentlich geschätzter Fotograf seinem Werk mitgegeben hat:
"Eine nackte Frau sitzt am Fußende eines Bett. Ihre Beine sind angewinkelt und teilweise verdeckt. Mit ihren Armen stützt sie sich nach hinten ab. Eine Betthälfte ist unordentlich. Der Blick der Kamera geht zwischen zwei Holzbalken durch."
Wenn ich über einigermaßen Phantasie verfüge, kann ich mir nun vermutlich irgendein Bild vorstellen. Aber hat meine persönliche Vorstellung wirklich etwas mit dem ursprünglichen Bild zu tun? Erfahre ich im Alt-Text etwas über die Licht-/Schattensituation im Bild oder Informationen zu Raum und Bildaufbau? Kann ich mir die nackte Frau in ihrem Äußeren eigentlich vorstellen? Weiß ich überhaupt ihr Alter, ihre Figur, ihre Frisur? Muss ich mir ihre Vorder- oder eher ihre Rückansicht vorstellen? Wie ist eigentlich die Bildstimmung, ihr sinnlicher Ausdruck???
Nun, ich müsste hier vermutlich noch an die hundert weitere Fragen zu Informationen stellen, die mir fehlen, um in meiner Phantasie einen ausreichenden Zugang zu dem besagten Bild erlangen zu können. Gewiss, man kann ein Bild derart komplex und vollumfänglich beschreiben - aber dann ist es unvermeidbar ein mehrseitiger Aufsatz. Und selbst wenn ich so fleißig sein möchte, es widerspräche vorhandenen Richtlinien. Hierzu wieder ein Auszug aus Wikipedia:
"Generell sollte der Alt-Text so kurz wie möglich sein. Screenreader können Alt-Texte nicht stückweise verarbeiten. Sie werden unabhängig von ihrer Länge in einem Stück vorgelesen. Braillezeilen haben Standardbreiten von 40 beziehungsweise 80 Zeichen. Das spräche dafür, die Länge von Alt-Texten auf diese Länge zu beschränken. Manche Bilder benötigen jedoch mehr Wörter, um beschrieben zu werden. Die Accessibility-Fachstelle der Universität Toronto hat Obergrenzen vorgeschlagen, die heute weitgehend akzeptiert werden. Sie liegen in deutscher Sprache bei 115 Zeichen, im Englischen, das kürzere Wörter hat, bei 90."
Nur zur Einordnung: Der weiter oben zitierte Alt-Text besteht bereits aus 237 Zeichen.
Auch wenn es nicht leicht fällt, es zu akzeptieren: hier sind wir dann einfach an den Grenzen des Machbaren angelangt. So sehr wir uns bemühen: die ehrbaren Bemühungen werden bei Bildern mit künstlerischem Kontext für alle Seiten letztendlich frustrierend sein.
Es ist daher weder Ignoranz oder gar böser Wille, wenn ich bei derartigen Bildern auf besagte Alt-Texte verzichte oder diese sehr minimal halte (z.B.: Porträtfoto). Es ist schlicht die Resignation vor dem nicht Realisierbaren. Und daher fände ich es auch ausgesprochen gut, wenn auf Seiten der vehementen Forderer von Alt-Texten das Thema etwas differenzierter und praxisnaher diskutiert würde. ;)
Wie oben bereits erwähnt: das waren und sind meine momentanen Gedanken hierzu. Meine Gedanken und Ansichten sind aber fluide und werden von mir auch immer neu hinterfragt!
Da hier im Blog keine Kommentare möglich sind, schreibe mir Deine Einwände oder Ergänzungen per Mail - ich werde sie hier (ggf. in Auszügen) nachfolgend gern anfügen! Insbesondere die Ansichten von tatsächlich Betroffenen würden mich außerordentlich interessieren!
Reaktionen auf diesen Beitrag
Erik (via Bluesky):
"Wenn Du Dir schon so viel Mühe machst, warum hast Du nicht mal mit Betroffenen geredet? Die hätten Dir am besten Auskunft zu Sinn und Zweck gegeben, nebst Tipps, wie die Alt-Texte idealerweise aussehen. Und wenn Du das hier schon militant gefunden hast, dann warst Du noch nicht im Fediverse. Ganz im Gegenteil war ich teilweise über die vehementen Reaktionen auf ... [Anm.: Accountname entfernt] Post verwundert. Einem Account bin ich da auch sofort entfolgt."
...
"Zwar aus dem Fediverse, aber hier z.B. mal die Meinung eines Betroffenen: friendica.world/display/84b6..."
Michael (via E-Mail):
"Hallo Ulli, ich habe Deinen Beitrag über ALT-Texte gelesen und war beeindruckt, wie intensiv Du Dich mit diesem Thema befasst hast. Deshalb ein kurzes Feedback. Ich selbst wusste letzte Woche noch nicht, was ein ALT Text ist und war überrascht, als ich diese Woche einen Post las, in dem ein User ankündigte, keine Fotos mehr zu reposten, wenn diese nicht mit einem ALT Text versehen sind.
Ich muss zugeben, dass ich zuerst etwas irritiert war und mir dann die Frage gestellt habe, wie man Fotos jemandem beschreiben kann, der sie selbst nicht sehen kann. Fotos wirken auf jeden Menschen anders und gerade für mich ist der visuelle Eindruck nur ein kleiner Teil eines Fotos. Vielmehr erzeugen Fotos Gefühle, wecken persönliche Erinnerungen und regen die eigene Fantasie an.
Deine Gedanken zu ALT-Texten sind daher für mich nachvollziehbar. Ich bin offen für andere Ansichten, aber im Moment klingen Deine Erklärungen für mich am schlüssigsten."